Gerd Lamatsch im Interview: "80 Prozent der Regeländerungen für die Mülltonne" - fussballn.de
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Artikel veröffentlicht am 16.10.2023 um 10:12 Uhr
Gerd Lamatsch im Interview: "80 Prozent der Regeländerungen für die Mülltonne"
Über Fans, die nicht mehr gemolken werden wollen; über Amateurspiele die zu 50 Prozent von Schiris über 60 gepfiffen werden; über Schiedsrichter als Influenzer; über ein Autogramm von Pierluigi Collina und vieles mehr. Schiedsrichter Gerd Lamatsch gibt einen Einblick über seine Sicht der Dinge.
Von Uwe Kellner
Guten Tag Herr Lamatsch, Sie selbst nennen sich einen "Nobody", haben aber schon zwei Bücher, Kellerschiri und Rasenschiri, veröffentlicht, den einen oder anderen prominenten Weggefährten auf Ihrer langen Reise im Fußballgeschäft kennengelernt und sind durchaus einer der bekannteren Schiedsrichter. Wie würden Sie Ihre aktuelle Rolle im Business beschreiben?
Gerd Lamatsch: Ich bin jetzt mit 64 noch ein Basisschiedsrichter, der über lange Jahre hinweg hochklassig gepfiffen und gecoacht hat. Mit meiner Entscheidung, im Alter schwerpunktmäßig Juniorenspiele zu leiten, möchte ich etwas meiner langjährigen Erfahrung zurückgeben. Neben den Spielleitungen setze ich mich daher bei Trainern und Vereinen bewusst für das "Schiedsrichterwesen" ein, versuche für dieses Ehrenamt zu werben und die Vereine in deren eigenem Interesse in die Aktivität zu bringen.

Sie haben es geschafft, eines Ihrer Bücher vom Chef der FIFA-Schiedsrichterkommision, Pierluigi Collina, unterschreiben zu lassen. Können Sie uns in diese Geschichte mitnehmen, wie das vonstatten ging und warum es beinahe nicht geklappt hätte?
Gerd Lamatsch: Der wahrscheinlich beste und bekannteste Schiri der Welt war im Oktober 2019 bei einer Galaveranstaltung in Nürnberg zu Gast, als er für sein Lebenswerk geehrt wurde. Bei der After-Show-Party gelang es mir, ihn auf Englisch anzusprechen, ihm kurz zu erklären wer ich bin und dass ich gerade eben ein Buch über den VAR geschrieben habe. Ich bat ihn um eine Signierung, die er mir dann nach einigen Fragen gerne gab! Ich bat ihm an, das Buch auch in andere Sprachen zu übersetzen (lacht).

Gerd Lamatsch ergatterte eine Unterschrift von Pierluigi Collina in einem seiner Bücher. Der Schiri-Boss war damals sehr vorsichtig, was er unterschreibt, vertraute dem Nürnberger Schiedsrichter aber letzten Endes.
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Sie selbst standen in der 2. Bundesliga an der Seitenline. Heute sind Sie der Meinung, dass sich der Profifußball durch das viele Geld von den Fans entfernt und dass die "Geldblase im Fußball" irgendwann genauso platzen wird wie die Immobilienblase. Ist das so richtig und können Sie das genauer beschreiben?
Gerd Lamatsch: Ich kann das natürlich nicht beweisen, es ist eine persönliche Einschätzung auf Basis eines gesunden Menschenverstands. Die Grundlage für diese Wahnsinnsspirale nach oben ist zum einen Investmentkapital, welches aktuell vor allem aus dem Ausland (z.B. Katar) kommt oder von großen Sponsoren und zum anderen die irren Gelder aus der Bildrechteverwertung (Fernsehgelder). Das sind die beiden entscheidenden Faktoren. Spätestens seit Corona ziehen sich immer mehr große Sponsoren zurück oder reduzieren ihr Invest bei den Vereinen, bei den Fans gibt es immer mehr, die keinen Bock mehr haben, über drei verschiedene Abos gemolken zu werden. In meinem großen Bekanntenkreis haben sich bereits sehr viele vom professionellen Fußball komplett verabschiedet. Wir werden sehen, wo die Entwicklung hin geht. Ein Gradmesser ist hier auch das Interesse für die Nationalmannschaft. Ich habe Katar boykotiert und schaue mir aktuell keine Länderspiele mehr an - wie viele andere auch.

Was ist für Sie der dringendste Punkt im Profifußball: die Einführung der Nettospielzeit, das Reformieren des VAR, die Vereinfachung der Handspielregel oder etwas ganz anderes? Vielleicht können Sie kurz auf die Punkte eingehen.

Gerd Lamatsch: Wenn es darum geht, den Fußball noch gerechter, transparenter und fairer zu machen ganz klar Punkt 1 und 2. Die Einführung der Nettospielzeit ist mit minimalen Mitteln sofort möglich. Es gibt aus meiner Sicht kein einziges echtes Gegenargument. Meist werden hier Sendezeitprobleme der Fernsehanstalten alibimäßig vorgeschoben. Auch das VAR-Protokoll gehört bereinigt und ausgemistet. Das ist allerdings etwas komplexer und die IFAB ist hier meiner Einschätzung zu langsam, zu konservativ und kritikresistent. Neben der Handspielregel gehören noch mehr Regeln vereinfacht und optimiert. Das Regelwerk ist im Laufe der Zeit immer komplexer geworden. 80 Prozent der Regeländerungen sind für die Mülltonne, 20 Prozent ein Fortschritt.

Gerd Lamatsch als Schiedsrichter. Heute pfeift er nur noch Jugend- und Frauenfußball, ärgert sich dabei aber über die vielen Spielabsagen in diesem Bereich, denn auch Schiedsrichter planen ihr Wochenende nach dem Fußball.
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Sie haben Pascal Martin, aka Qualle, den ersten Schiedrichter-Influenzer kennengelernt. Er hat etwa eine Million Follower, hat mittlerweile zehn Mitarbeiter und Vereine können ihn für eine drei- bis vierstellige Gebühr buchen, um ein Jugendspiel zu pfeifen. Bei jungen Schiedsrichtern ist er sehr bekannt. Wie stehen Sie zu diesem Thema?

Gerd Lamatsch: Da bin ich zwiegespalten: Zum einen finde ich es toll, was er erreicht hat und medial bewegt - er setzt sich ja für das Thema "Respekt" ein. Er erreicht damit viel mehr junge Menschen über Social Media als der DFB, der davon nur träumt. Auf der anderen Seite ist das, was er präsentiert und vermittelt, eine Traumwelt, die so gar nicht exisitiert. Die Schirirealität ist anders. Aber es ist ein cooler Junge und ich gönne ihm von Herzen seinen Erfolg.

50 Prozent der Amateurspiele in Bayern werden von Schiedsrichtern gepfiffen, die über 60 Jahre alt sind. Mit 64 Jahren sind Sie einer davon. Läuten da bei Ihnen die Alarmglocken oder sagen Sie "wir schaffen das"?
Gerd Lamatsch: Da läuten logisch die Alarmglocken, denn in diesem Alter kann es ganz schnell passieren, dass man aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr kann. Es ist aber ein exaktes Spiegelbild unserer Bevölkerungspyramide, die ja auch andere Probleme bereitet (Rentenniveau, Fachkräftemangel, etc.). Daher ist es wichtig, neue und junge Talente zu finden und zu entwickeln.

Sie haben die so genannte "Schirifibel" für Vereine veröffentlicht. Können Sie nochmal kurz zusammenfassen, was Sie dazu angetrieben hat und was Sie damit bezwecken?
Gerd Lamatsch: Es ist im Grunde genommen ein ganz einfacher und praxisnaher Leitfaden als Hilfe zur Selbsthilfe für Vereine, Trainer, Manager. Es beinhaltet Tipps und Empfehlungen, wie Vereine Schiedsrichter gewinnen, wertschätzen und bei sich erfolgreich integrieren können und wie sie mit Schiedsrichtern im Spielbetrieb umgehen sollen. Eigentlich unglaublich, dass der DFB oder Verband hier nicht schon längst selber draufgekommen sind. Statt den Ball aufzunehmen, hat der Verband und seine Verantwortlichen meine Idee schlichtweg ignoriert. Man hätte das ja auch mit Reichweite kommunizieren können.

Die Schirifibel von Gerd Lamatsch ist zum kostenlosen Download unter diesem Link verfügbar.


Vielen Dank für das Interview!

Gerd Lamatsch (Mi.) zu Gast als Referent bei der Schiedsrichtergruppe Erlangen. Gerne stellt er seine Bücher vor und steigt in den Diskurs ein über aktuelle Themen des Schiedsrichterwesens.
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