Gibt´s oder gibt´s nicht?: Das "Taktische Foul" und das Regelwerk - fussballn.de
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Artikel veröffentlicht am 27.03.2021 um 06:00 Uhr
Gibt´s oder gibt´s nicht?: Das "Taktische Foul" und das Regelwerk
Johannes Gründel ist Schiedsrichter und Lehrwart der Forchheimer Referees. Im Gespräch mit anpfiff.info erklärt er, ob es das immer wieder zitierte "Taktische Foul" tatsächlich gibt und wie ein Schiedsrichter damit umzugehen hat - und was Michael Ballack damit zu tun hat...
Von Uwe Kellner
Guten Tag Herr Gründel, ist das "Taktische Foul" in den Fußballregeln verankert?
Johannes Gründel: Jein. Der Begriff des taktischen Fouls wurde im Rahmen der großen Regelrevision 2016 relativ unauffällig aus dem Regelwerk gestrichen, ohne dass damit eine inhaltliche Regeländerung bezweckt werden sollte. Bis dahin hieß es im Regelwerk: „Ein Spieler ist wegen unsportlichen Betragens zu verwarnen, wenn er (…) zur Unterbindung oder Verhinderung eines aussichtsreichen Gegenangriffs ein taktisches Foul begeht“.

Soweit ich weiß, wurden die Gründe für diese konkrete Änderung nie öffentlich kommuniziert, aber ich glaube, das hängt damit zusammen, dass der Begriff sehr missverständlich ist: Der Begriff „taktisches Foul“ klingt nach einem Foul aus taktischen Motiven. Wer danach fragt, ob ein Foul taktisch war, stellt sich also die Frage „Warum hat der Spieler hier gefoult?“. Das ist aber - wie bei der Notbremse übrigens auch - unerheblich, wichtig ist nur, ob tatsächlich ein aussichtsreicher Angriff unterbunden wurde. Das kann aus taktischen Motiven erfolgen, aus ganz anderen Gründen oder auch ungewollt. Das ist alles egal, solange es ein Foul ist und ein aussichtsreicher Angriff unterbunden wurde.

Deshalb heißt es mittlerweile auch im Regelwerk: „Ein Spieler ist wegen unsportlichen Betragens zu verwarnen, wenn er … ein anderes Vergehen [als ein Handspiel, das noch einmal gesondert aufgeführt wird, weil dort die Abschwächung im Strafraum analog zur Notbremse nicht gilt] begeht, um einen aussichtsreichen Angriff zu verhindern oder zu unterbinden, es sei denn, der Schiedsrichter entscheidet auf Strafstoß für ein Vergehen, das bei dem Versuch, den Ball zu spielen, begangen wurde“.

Das klingt mit der deutschen Formulierung „um … zu verhindern“ immer noch so, als würden wir auf die Absicht des Spielers schauen, aber das ist eine ungenaue Übersetzung: Wenn man das englische Original wörtlich übersetzt, steht da „ein irgendein anderes Vergehen begeht, das einen aussichtsreichen/ vielversprechenden Angriff stört oder unterbindet“ (commits any other offence which interferes with or stops a promising attack“). Es kommt also nur auf die tatsächliche Wirkung an, nicht auf den Willen des Spielers.

Schiedsrichter Johannes Gründel spricht mit anpfiff.info über das "Taktische Foul".
anpfiff.info

"Schiri, das war ein Taktisches Foul", hört man immer wieder auf den Sportplätzen und geht einher mit der Forderung nach einer Gelben Karte. Ab wann gibt es denn tatsächlich eine Gelbe Karte?
Johannes Gründel: Wenn ein aussichtsreicher Angriff unterbunden wird. Das Lehrbuchbeispiel ist hier natürlich der unterbundene Konter, bei dem die Angreifer ausschwärmen und die Defensive noch nicht sortiert ist. Das heißt aber nicht, dass jedes Foul in einem Konter gleich eine Gelbe Karte ist, der Konter muss schon aussichtsreich sein bzw. vielversprechend - das Wort finde ich schöner, weil es näher am Original „promising“ ist und gleichzeitig auch zeigt, dass die Hürden gar nicht so niedrig sind, wie man denkt.

Ein anderes Beispiel, das für die Schiedsrichter als Parameter sehr praxisrelevant ist, ist das sog. „Going in the box“, also ein Spieler, der mit dem Ball in den Strafraum und Richtung Tor ziehen will und dann vom Gegenspieler gefoult wird (natürlich ohne dass es eine Notbremse wäre). Die Vereitelung eines aussichtsreichen Angriffs ist generell eine Art „Mini-Notbremse“ und das sieht man mittlerweile auch bei Fouls im Strafraum: Als 2016 die Doppelbestrafung dahingehend abgeschwächt wurde, dass Notbremsen im Strafraum nur noch dann eine glattrote Karte nach sich ziehen, wenn sie eindeutig gegnerorientiert und nicht ballorientiert sind, hatte man vergessen, eine parallele Regelung für die kleine Schwester der Notbremse, den aussichtsreichen Angriff, zu schaffen. Damals hieß es „Gelb bleibt gelb“ und auch ein ballorientiertes Foul im Strafraum wurde bei der Vereitelung eines aussichtsreichen Angriffs mit Gelb bestraft – genau wie das ballorientierte Verhindern einer klaren Torchance, also eine ballorientierte Notbremse.

Dass das nicht zueinander passt, hat man im Jahr drauf gemerkt, sodass es seit 2017 keine Gelbe Karte mehr gibt, wenn ein Spieler im eigenen Strafraum mit einem ballorientierten Vergehen („beim Versuch, den Ball zu spielen“ heißt es im Regelwerk) einen aussichtsreichen Angriff verhindert - es sei denn natürlich, das Foul ist auch von der Intensität her gelbwürdig, also rücksichtslos. Dann gibt es die Gelbe Karte aber ja auch für das Foul an sich und nicht für die Vereitelung des aussichtsreichen Angriffs, wie beim Vorteil eben auch.

Sie haben gerade den Vorteil erwähnt, wie ist das da mit der Gelben Karte? Gibt es die nachträglich?

Johannes Gründel: Klassische Schiedsrichter- und Juristenantwort: Kommt drauf an. Im Normalfall, also einem x-beliebigen Vergehen, das einen aussichtsreichen Angriff unterbinden würde, wird die Gelbe Karte nicht nachgezogen. Wenn man drüber nachdenkt, ist das aber auch logisch: Die Gelbe Karte gäbe es ja für das tatsächliche Unterbinden des aussichtsreichen Angriffs und nicht für die Motive des foulenden Spielers. Wenn der Schiedsrichter aber Vorteil laufen lässt, dann bleibt der aussichtsreiche Angriff bestehen und wird dementsprechend gerade nicht verhindert. Also fällt der Grund für die Gelbe Karte weg.

Davon gibt es aber zwei Ausnahmen. Zuerst einmal die Intensität des Fouls, die ich vorhin schon für Fouls im Strafraum angesprochen habe. Wenn ein Spieler ein rücksichtsloses Foul begeht und der Schiedsrichter gibt Vorteil, wird die Gelbe Karte natürlich immer nachgezogen. Die zweite Ausnahme wurde im vergangenen Sommer im Regelwerk ausdrücklich aufgeführt, in der Praxis in letzter Zeit aber auch teilweise schon so gehandhabt: Wenn das Foulspiel zwar nicht rücksichtslos, aber „respektlos“ war, gibt es auch nachträglich Gelb.

Da stellt sich natürlich die Frage: Was ist mit einem respektlosem Foul gemeint? Vor allem ein deutliches Halten. Da reicht aber nicht das Allerweltshalten aus, sondern der Spieler muss wirklich über mehrere Meter gehalten oder gezerrt werden. In den Videoszenen zur Regeländerung wurde diese Änderung am Beispiel eines Foulspiels vorgestellt, bei dem Sadio Mané bei einem Konter über etwa 9 Meter hinweg deutlich gehalten wurde. So etwas merkt sich dann natürlich auch jeder am Sportplatz und der Fußball erwartet dann auch, dass es nachträglich Gelb gibt.

Lässt der Schiedsrichter bei einem taktischen Foul den Vorteil laufen, fällt die nachträgliche Verwarnung meist weg.
anpfiff.info

Das wohl prominenteste "Taktische Foul" beging Michael Ballack im Halbfinale der WM 2002 gegen Gastgeber Südkorea und war deswegen im Finale gegen Brasilien gesperrt. Warum bekam er damals laut Reglement die Gelbe Karte und wäre das heute noch genauso?

Johannes Gründel: Das Foul war damals klar gelb und wäre es auch heute noch. Die Südkoreaner hatten einen Konter und liefen mit vier Angreifer gegen drei deutsche Abwehrspieler auf das deutsche Tor zu. Das Foul war keine fünf Meter vom Strafraum entfernt und in dem Moment, in dem Ballack das Foul begeht, war auf der rechten Seite ein Koreaner völlig frei mit ca. 15 Meter Abstand zum nächsten Deutschen. Begeht Ballack das Foul nicht, steht der Passweg zu dem Spieler komplett offen, auch ein Steckpass nach links in den Strafraum zu einem anderen freien Koreaner war möglich und der ballführende Spieler selbst ist gerade dabei, in den Strafraum zu ziehen. Hier nicht Gelb zu geben wäre ein klarer Fehler gewesen und wäre das auch heute noch, für den ein Schiedsrichter unter Beobachtung einen Punktabzug wegen eines mittelschweren Fehlers befürchten müsste. Daran ändert natürlich auch nichts, dass Oliver Kahn in der Form seines Lebens war und die Koreaner eh spätestens an ihm gescheitert wären (lacht).

Vielen Dank für das ausführliche Interview!

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